„Mama, Papa, kommt! Da sind Piloten, drei Piloten!“. Aufgeregt ziehen uns die Kinder nach draussen, wo sie gespielt haben. Tatsächlich äsen drei Antilopen kaum zwanzig Meter von unserem Fahrzeug weg. Auch wilde Pfauen zeigen sich mit dem Einbruch der Dunkelheit, überall raschelt und knackt es . Aus der Ferne hören wir Trommelschlagen und Gesänge; der Sternenhimmel ist klar und überwältigend. Wir kommen langsam runter, die Angespanntheit des Tages kann sich setzen. Wie toll Indien doch ist!
Da passt sicher noch was rein!
Wir sind unterwegs in Rajasthan, im „Land der Könige“. Die vielen imposanten Bauten zeugen noch heute von der bewegenden Geschichte der grossen Städte. Rajasthan ist Indiens flächengrösster Bundesstaat und hat unglaubliche 70 Millionen Einwohner – insofern verwundert es überhaupt nicht, dass man dauernd das Gefühl hat, sich in Menschenmassen zu befinden. Zu unserem Erstaunen sind die Strassen in unerwartet gutem Zustand, sodass die Überlandfahrten fast schon entspannend genannt werden könnten, wären da nicht immer irgendwelche unerwarteten Hindernisse, die auftauchen: ein Traktor, der einem auf der falschen Strassenseite hinter der Kurve entgegenkommt oder auch mal kippt, fünfköpfige Familien auf dem Motorrad, die ohne einen Blick auf die Strasse einbiegen, fahrrad(mit)fahrende Schafe und unzählige Kühe. Wahlweise liegend, stehend, gehend, kämpfend, lebendig, halbtot, tot oder verwesend.
tot toter
Inzwischen riechen wir auch bereits, wenn wir uns wieder einer Kuh nähern – wir nennen die Strasse nach Jaisalmer „road of the thousend death cows“. Zeitenweise ziert alle paar hundert Meter ein geblähter Kuhkadaver den Strassenrand. Kühe in allen Verwesungszuständen begleiten unsere Fahrt. Bald rufen die Kinder „bäh, schon wieder eine Kuh!“, der Verwesungsgeruch ist grauenhaft und uns ist es unbegreiflich, wie der Besitzer des Reifenflick-Shops nur zwanzig Meter entfernt dies ertragen kann. Noch so vieles ist uns nicht begreiflich, wird es wohl auch nie sein: an etlichen Orten, auch mitten in Dörfern und Städten türmt sich Müll. Die (lebenden) Kühe, Hunde und Schweine tun sich gütlich daran. Zwischenzeitlich sieht man arme Seelen, die diesen Müll durchwühlen nach etwas Verwertbarem. Mehrfach begegnen wir Menschen, die ihre Notdurft mitten in der Stadt erledigen, oder sich dazu auf dem Land, wo es viele diskretere Orte gäbe, dazu an den Strassenrand einer gut befahrenen Strasse kauern. „Wir suchen uns jetzt mal eine belebte Strasse“ wird für die kommenden Wochen unser familieninterner Running Gag, wenn einer mal muss. Strassenkinder belagern uns oft beinahe aggressiv, Julian und Tabea werden hemmungslos ins Gesicht gegrabscht und auch wir angefasst. Die Strassen sind manchmal so dreckig, dass wir die Kinder tragen müssen und uns angesichts dieser Verhältnisse fragen, wieso wir uns dies freiwillig antun.
Dann kommen wir wieder zu einem Blumenmarkt, wo abertausende von Blüten ausgebreitet auf ihre Verarbeitung warten. Der Duft ist betörend, die Farbenpracht ebenso. Frauen auf dem Land tragen in farbenfrohen Gewändern riesige Heu- und Holzbündel auf ihren Köpfen, es erinnert an Gauguin’s Südsee-Bilder. Sowieso, auf den Stoffmärkten könnten Karin und Tabea sich komplett verlieren und wohl auch das gesamte Familienbudget auf den Kopf hauen. Oft kommen wir uns vor wie in der Masoala-Tropenhaus: Papageien in jeglicher Couleur flattern um uns, Streifenhörnchen treiben um uns ihre lustigen Spiele, die Kinder sammeln Stachelschwein-Stacheln, die Affen turnen frech auf TINKA herum. Wir sehen Tieren, deren Name wir nicht mal wissen. Auch die Flora ist eindrücklich – alles von einer Grösse, dass einem der Atem stockt. Tabea als Blumenmädchen kommt zu ihrem Einsatz; oft sind die Blüten fast so gross wie ihr Kopf.
Das Navi führt uns entlang der Nationalstrasse NH58 zu unserem nächsten Ziel. Der Routenplanung vertrauend, da es keine Alternativen gibt, begeben wir uns auf eine lange Brücke. Schon beim Auffahren auf die Brücke wird uns klar, dass uns zwar Rickshaws und Zweiräder knapp kreuzen können, sicher aber keine Autos. Da TINKA ja nicht gerade übersehbar ist, gehen wir davon aus, dass dies auch den andern Strassenteilnehmern klar ist und hoffen auf ein Warten bis wir durch sind. Das Entgegenkommen wird aber wörtlich genommen und so ist die Brücke, die die Hauptverkehrsachse der beiden Städtchen darstellt, innert Kürze komplett verstopft. Selbst für Fussgänger ist absolut kein Weiterkommen mehr; auf beiden Seiten der Brücke stopfen sich mehr und mehr Fahrzeuge auf die schon stehenden Kolonnen. Das Hupkonzert ist infernalisch, der entgegenkommende Pulk macht Handzeichen, wir sollen zurückfahren. Wie das bei wahrscheinlich weit über hundert Fahrzeugen hinter uns?!? Menschen trommeln auf TINKA ein, wir werden auf Hindi angebrüllt. Toralf entlädt seinen Frust mit einem Zurückbrüllen auf Sächsisch, was gottseidank keiner versteht. Karin findet schliesslich jemanden, der etwas Englisch spricht und kann ihm klarmachen, dass ein Weiterkommen nur möglich ist, wenn jetzt alle zusammenarbeiten. Tatsächlich gelingt dies und die Brücke wird wieder befahrbar. Nur zehn Minuten später haben wir die gleiche Situation in der nächsten Stadt – wir befinden uns ganz plötzlich mitten in einem Markt…es ist einfach nur unglaublich anstrengend!

Die blaue Stadt – Jodhpur Die Hände der Witwen – nach dem Tode ihres Ehemannes ebenfalls verbrannt Fort von Jaiselmer Ganesha
Die riesigen Forts in Jaiselmer und Jodhpur sind enorm beeindruckend – wir streifen stundenlang durch die alten Mauern und lernen viel über die uns bisher noch recht wenig geläufige Geschichte. Diese Streifzüge bieten uns auch etwas Rückzugsmöglichkeit aus dem üblichen Gewusel in den Städten. Schlucken müssen wir gelegentlich aber über die Eintrittspreise, die oft deutlich über Beträgen von heimatlichen Museen liegen und meist das 10- bis 20-fache der indischen Preise betragen. Gewisse Sehenswürdigkeiten sind ihren Eintrittspreis mehr als wert – für ein dunkles Museum mit unbeschrifteten, arbiträr zusammengeputzelten und zerfallenden Exponaten 10USD und mehr zu bezahlen, haben wir bald keine Lust mehr und wählen sorgfältiger aus. Sowieso geht uns die „Melkerei“ recht schnell auf die Nerven. Während wir in den vergangenen Monaten stets mehr als korrekt behandelt wurden, muss in Indien jeder Preis nachgefragt und bestätigt werden. Selbst wenn ein Produkt mit Preis ausgezeichnet ist – doppelter Preis für das Eis, weil es gekühlt ist?!? Aha, wenigstens ein lustiges Argument. Zehnfachpreise für eine kurze Ricksaw-Fahrt oder einen Parkplatz nerven irgendwann einfach nur – diese ewige Verhandelei macht müde. Das offene Interesse an gegenseitigem Austausch, das uns auf unserer Reise bisher so bereichert hat, ist hier in Indien fast ausnahmslos monetär bedingt.
Während wir in Jaiselmer einen angenehmen Stellplatz bei einem Hotel finden, gestaltet sich die Suche nach einem Plätzchen in Jodhpur unerwartet schwierig. Bereits die Hauptstrasse ist zeitenweise so eng, dass wir kaum durchpassen, die Verkehrsteilnehmer sind unglaublich rücksichtslos. Bei dem üblichen Einweisen wird Karin dreimal von einem sich durchdrängenden Motorrad gestreift, es wird während dem Fahren kontinuierlich telefoniert, ohne Hupe geht gar nichts. Es wird langsam dunkel, von jedem anvisierten Platz werden wir weggejagt, einmal sogar 10 Minuten, nachdem uns jener Platz angeboten wurde. Happy Divali – frohes Lichterfest! Als wir endlich einen Platz finden, wird im Halbstundentakt bis um Mitternacht an die Tür gehämmert, da die Menschen TINKA von innen besichtigen möchten. Auch dies ist ein Phänomen, dem wir bisher nicht in der Art begegnet sind: dieses komplette Nicht-Respektieren von Grenzen. Während sich die Menschen in Pakistan oder im Iran auch sehr für TINKAs Innenleben interessiert haben, war diese Neugier stets höflich. In Indien hingegen drängen sich jegliche ungefragt einfach so herein. Im besten Falle mit Bedienung aus der Fruchtschale und aufdringlichen Liebesbezeugungen. Einmal – Karin ist vor TINKA am Lesen – setzt sich ein junger Mann einfach neben sie auf unsere Treppe und beginnt Baller-Games am Handy zu spielen – selbstverständlich mit entsprechender akustischer Untermalung. Ein Gespräch ist aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht möglich.
Wer starrt länger? Oder sich gleich dazusetzen?
Auch die Respektlosigkeit untereinander, sei es im Verkehr, auf dem Markt, im Restaurant befremdet uns. Genauso wie der Umgang mit den Tieren – obwohl diese doch eigentlich heilig sind.
Nach all den Städten ruft uns wieder die Natur – wir brauchen Abstand von den Menschenmassen. Wir haben Glück und finden einen wunderschönen Platz an einem kleinen See, nur gelegentlich ziehen freundliche und wenig-aufdringliche Schäfer an uns vorbei. Julian und Tabea geniessen die Freiheit und flitzen mit ihren Rädern, die längst zu Mountainbikes umfunktioniert worden sind, über alle Hügel, derweil sich Karin endlich mal wieder eine Beauty-Session mit Haarpackung gönnt. Kaum ist das Zeug in den Haaren, geht ein Geschrei los; zuerst einstimmig von Tabea, danach zweistimmig mit dem Papa, der aschfahl und mit bluttriefenden Händen angerannt kommt. Wohl auch schon etwas lange vom Job weg, wird es Karin auch erstmal ganz anders, als sie das Malheur begutachtet – eine tiefe Schnittwunde am Rücken, die bis in die Muskeln und auf die Knochenhaut geht und wie verrückt blutet. TINKA wird zum OP umgebaut, Toralf muss als Assistent herhalten. Julian möchte unbedingt zusehen, wird dann aber sehr schnell kleinlaut. Schlussendlich sitzt die Naht, die Haarpackung ist inzwischen eingetrocknet, und die Affen rasen um TINKA.

Arme Tabea, ich hoffe, ihr geht es zwischenzeitlich wieder gut.
Liebe Karin, lieber Toralf und Julian, ich lese regelmäßig euren Block und begleite euch so gedanklich auf eurer eindrucksvollen Reise. Eine intensive Zeit habt ihr zusammen. Ich bewundere euren Mut und Geschick. Bleibt/ werdet wieder gesund!
Viele liebe Grüße, Martina
Liebe Martina und Familie
ach, so schön, von Euch zu hören! Wir denken doch immer wieder auch an Euch und was das Doppelgespann so treibt.
Bei uns ist weiterhin alles bestens, die Narbe bei Tabea heilt gut, dafür steckt jetzt Julians Hand im Gips…doppelte Freude 😉
Wir wünschen Euch ganz schöne Feiertage und hoffen, euch im 2020 mal wieder zu sehen!
Liebe Grüsse, Karin, Toralf, Julian & Tabea
Liebe Alle, Indien habe ich ähnlich erlebt. Und daran denke ich öfters, wenn ich die Zahl der indischen Bevölkerung höre. Gleichzeitig denke ich aber positiv.
Alles, alles Gute – viel Geduld und die notwendige Energie den Indern „….best friend..“ Paroli bieten zu können
Lieber Marcus, jaja, positiv denken hilft über vieles hinweg. Und im Nachhinein ist vieles auch lustig. Mit dem eigenen Auto habe ich Indien um ein vielfaches anstrengender empfunden als zu Backpackerzeiten, wo man dann doch meist auf Touriwegen unterwegs war. So schön wie’s war, wir waren dann doch froh, wieder in Pakistan und schliesslich in unserem so geschätzten Iran zu sein.
Herzliche Grüsse und ein gutes Neues!
Karin und Family