Reise

Kirgistan – wir sind angekommen

Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu, die unendlichen Hügelzüge werfen ihre langen Schatten. Julian und Tabea buddeln eifrig im Sand am Fluss. Um uns Weite, beinahe unendliche Weite. Am Himmel ist bereits der wieder zunehmende Mond zu sehen, Schwalben jagen nach Mücken. Keine Zivilisation weit und breit. Wir sind angekommen! Wir werden eins mit unserer Reise, lassen uns einfach treiben – uns geht es gut, der Weg ist das Ziel. Gestern haben wir den falschen Weg gewählt, so heute viele Kilometer durchs kirgisische Hinterland auf unbefestigten Strassen zurückgelegt. Doch wen kümmert’s, die Aussicht ist so grandios, dass wir manchmal das Gefühl haben, wir seien auf einem anderen Planeten. Vor 5 Monaten haben wir die Schweiz verlassen, leben tagein tagaus auf acht Quadratmeter zusammen, ernähren uns bis auf wenige Ausnahmen von dem, was die lokalen Märkte hergeben. Es geht uns gut, ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit hat sich in uns breit gemacht.

Angekommen in Osh, sind wir sofort auf die Suche nach einer Werkstatt gegangen. Wie so oft sind diese nicht offensichtlich, sondern irgendwo auf einem Hinterhof. In einer bei Overlandern bekannten PKW-Garage haben wir kein gutes Gefühl, ausserdem sind sie nicht für LKWs ausgerüstet. Nach ewigem Hin- und Herfragen finden wir eine LKW-Garage, ein Halbdutzend ölschwarzer Männer macht sich über TINKA her – schnell ist das Rad ab und die Bremstrommel offen. Bis dato ist uns nicht klar, wozu diese Schraube, die locker war, dient, aber wahrscheinlich hatte sie – zum Glück – keine sehr wichtige Funktion. Egal, die fehlende Mutter wird ersetzt, die Schraube angezogen, keine grösseren Schäden sind entstanden.

Etwas anders sieht es beim Dach aus: aus uns unerfindlichen Gründen wurde der Dachgepäckträger lediglich am Dachblech festgeschraubt, statt an einer tragenden Konstruktion. Das bedeutet, dass die Holzverkleidung in der Führerkabine aufgesägt und die Isolation rausgenommen werden muss. Eine supermühsame und auch destruierende Angelegenheit und dies nur aufgrund eines wirklich doofen Konstruktionsfehlers. Schliesslich wird der Träger verlängert, sodass er auf einen Dachquerträger verschraubt werden kann; auch der Riss im Dach von TINKA wird geschweisst. Schön ist anders, aber es hält.

Seit mehreren Wochen sind wir Erwachsenen aufgrund eines Infektes appetitlos und haben beide so stark abgenommen, dass keine Hose mehr passt. Endlich haben wir wieder Hunger und können in Osh so richtig unseren Gelüsten nachgehen. Die Kinder wünschen sich jeden Tag Pizza und andere ungesunde Mahlzeiten – die Freude sei ihnen aber gegönnt; auch sie spachteln wie die Weltmeister.

Die zweitgrösste Stadt nach der Hauptstadt Bishkek gefällt uns gut, sie ist übersichtlich und sympathisch. Der Hausberg, Suleyman Too, lockt uns natürlich auch wieder und wir klettern begeistert auf allen drei Gipfeln rum. Die Aussicht auf die Stadt ist toll, die Kinder können sich richtig verausgaben, wir haben Zeit, unsere momentanen Reisesorgen durchzubesprechen.

Wir sind etwas ratlos: im Kashmir ist der seit langem währende Konflikt mal wieder eskaliert. Der Sonderstatus dieser Region wurde ohne grössere Vorankündigung aus der Verfassung gestrichen. Riesige Truppenkontingente wurden aufgrund von befürchteten Terroranschlägen in das Kashmirtal verschoben, Touristen die dringende Ausreise empfohlen. Die Beziehung zwischen Pakistan und Indien kühlt weiter ab, von pakistanischer Seite wurde der Zugverkehr von Lahore nach Delhi bis auf weiteres komplett eingestellt. Na, toll…ausgerechnet diese Region war unser Ziel von Mitte September bis Ende Oktober! Über Amritsar wollten wir nach Srinagar und von dort über den Manali-Leh-Highway zurück. Angesichts der politischen Situation nicht die beste aller Ideen. Bereits vor 10 Jahren, bei Karins letztem Indienaufenthalt war ein Aufenthalt im Kashmir aufgrund der instabilen Situation nicht möglich – irgendwie soll es nicht sein.

Wir sprechen alle Möglichkeiten durch und ziehen auch in Erwägung, gar nicht erst über China nach Pakistan und von dort aus nach Indien einzureisen, sondern uns über Kasachstan und dann das Baltikum auf den Rückreiseweg über Land zu begeben. Aber wir haben doch schon einiges an Zeit und Geld in die Visa von China, Pakistan und Indien investiert; ausserdem freuen wir uns sehr auf Pakistan. Wir werden die Situation weiter eng beobachten und voraussichtlich die geplante Route weiterverfolgen und vor Ort entscheiden, wohin die Reise in Indien führt.

Aber nun liegt noch fast ein Monat Kirgistan vor uns, den wir so richtig geniessen wollen!

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