Nach äusserst beschwerlichen Grenzformalitäten am Vortag werden wir Punkt sechs Uhr morgens durch ein Lautsprecher-Plärren geweckt. Es klingt wie eine anstrengend-fröhliche Mischung aus bayrischer Volksmusik und amerikanischem X-mas Song, immer wieder unterbrochen von Durchsagen; wir verstehen nichts, es erinnert uns aber an den Film „good morning Vietnam“. Müde von den äusserst anstrengenden Grenzformalitäten des Vortages drehen wir uns nochmals im Bett um und begeben uns gemütlich zum Frühstücksbuffet – das zu unserem Erstaunen kurze Zeit später um neun Uhr bereits wieder schliesst. Das Hotel richtet sich nicht nach der Lokalzeit, sondern nach der staatlich angeordneten Bejing-Zeit, die zwei Stunden weiter ist. Mit knurrenden Mägen ziehen wir von dannen.
Zmorge etwas anders als gewohnt
Mittendrin und doch draussen
Wir schlendern durch die makellos sauberen Gassen der pittoresken Altstadt Kashgars. Sich bereits herbstlich verfärbendes Weinlaub rankt an den hübschen Häuserfassaden empor, vor den Eingängen alter Häuser stehen Kübelpflanzen in Tontöpfen, die wie frisch eingepflanzt wirken, es zwitschern Vögel in ihren Holzkäfigen zwischen den überall präsenten grünen Mülleimern. Während wir in den zentralasiatischen Städten so oft verzweifelt eine Möglichkeit der Müllentsorgung gesucht und unseren Müll zeitenweise mehrere hundert Kilometer mit uns gefahren haben, um ihn dann trotzdem schlechten Gewissens in einem Hostelgarten verbrennen zu lassen, erscheint die Dichte der quietschgrünen Mülleimer hier fast lächerlich inflationär. Handwerker ziselieren auf dem Boden sitzend Kupferkessel, es wird für den allabendlichen Food-Market vorbereitet; Menschen mit Mundschutz hacken Fleisch, kneten Wurstmasse und formen endlos lange Nudeln. Alles wirkt sauber und geordnet. Zu sauber. All die Ess-Buden sind normiert, aus demselben auf alt getrimmten Blech gearbeitet. Der durchnummerierte Feuerlöscher fehlt an keinem Stand. Der Spaziergang durch die Altstadt wirkt wie ein Besuch im Freilichtmuseum Ballenberg – nur 7000 Kilometer weiter östlich. Die uigurischen Bewohner der Altstadt gehen unter dem Foto-Blitzlicht der Touristenmassen von Han-Chinesen ihrem Tagwerk nach, leben ihr Leben. Kinder spielen auf der Strasse, streitende Buben werden von ihrer Lehrerin getrennt. Wir fühlen uns wie auf einer Art Safari – mittendrin und doch draussen. Der auf den ersten Blick reizenden Altstadt fehlt auf den zweiten der typische Charme stattfindenden Lebens bisher besuchter zentralasiatischer Städte mit streunenden Katzen, zwischen maroden Gebäuden spielender Kinder und mit um die Wette duftender Kebab-Grills und Abfallhaufen.
Kashgar, eine der wichtigsten jahrtausendalten Handelsstätten der Seidenstrasse. Einst eine der besterhaltenen, hauptsächlich aus Lehmhäusern bestehende, Altstadt in Zentralasien. Diese Bauten wurden zum grössten Teil durch die Regierung niedergerissen und stattdessen eine neue Kulisse hingebaut. Sauber, kontrollierbar – und irgendwie charakterlos.
klinisch rein Pampers auf Chinesisch 10 million electrobikes in Xinjiang alles nur Kulisse? Das Chinesische Pendant zu Schnittblumen: darfs ein Goldfisch oder eine Schildkröte sein?
Falsche Bärte und Erziehungslager
Musik erklingt durch die Gassen, wir folgen den Klängen und treffen auf eine uigurische Tanz- und Musikgruppe, die auf einem zentralen Platz einen Volkstanz darbietet. Begeistert werden die Tänzer von den vornehmlich Han-chinesischen Touristen mit all ihren grossen Kameras abgelichtet, einige Chinesinnen wagen sich auch unter die Tänzer und schwingen unter dem Gekicher ihrer Freundinnen ebenfalls das Tanzbein. Julian und Tabea beobachten das Szenario interessiert – und werden mal wieder ebenfalls zum begehrten Fotosujet. Zuerst ebenfalls von dieser vermeintlich lokaltypischen Darbietung fasziniert, jedoch von Beginn an durch etwas Nichtfassbares irritiert, bemerken wir, dass die typischen Bärte der uigurischen Tänzer lediglich angeklebt sind, unauffällige Gummibänder ziehen hinter die Ohren. Sie sind zwar ein gutes Imitat, demonstrieren aber in vollem Ausmass das Groteske, das Traurige dieser Stadt.
richtige Bärte… …und falsche
Ein Bart länger als Handbreit bei einem Mann unter 55 Jahren – ein guter Grund, im besten Fall festgenommen zu werden, im schlechteren ganz von der Bildfläche zu verschwinden und/oder in einem der von der chinesischen Regierung euphemistisch als „Berufsbildungslager“ genannten Umerziehungscamps, zu landen. Gemäss UNO-Schätzungen sind hier über eine Million Uiguren interniert, obwohl neuliche Berichte bekannt geben, dass die meisten der Insassen – oder Schüler – bald entlassen würden. Wohl unter dem wachsenden öffentlichen Druck erlaubt China inzwischen auch geführte Journalisten-Touren, wo ausgesuchte Lager besichtigt und einzelne Insassen interviewt werden können. Die Öffentlichkeit erfährt von diesen, wieviel sie doch in diesen Lagern gelernt, wieviel sie von der inspirierenden chinesischen Kultur mitgenommen hätten. Diese Aussagen lassen in Hinblick auf die Dutzenden Überwachungskameras, hohen Zäunen und dem im Land omnipräsenten Stacheldraht Zweifel aufkommen.
Xinjiang – ein trauriges Beispiel einer fehlgeschlagenen Integration
Als Xinjiang 1949 in der Volksrepublik China zugeschlagen wurde, stellten die turkstämmigen, muslimischen Uiguren über 80% der regionalen Bevölkerung. Durch die kontrollierte Ansiedelung von Han-Chinesen ist der Anteil der Uiguren auf aktuell unter 45% gesunken. Die muslimische Region Xinjiang hatte stets mehr Gemeinsamkeiten zu Kazachstan, Kirgistan und Tadschikistan denn zu seinem Nachbarn China. Während kulturelle Differenzen seit jeher bestanden, erreichten die Konflikte um 2009 mit ca. 200 Toten ihren Höhepunkt. 2014 starben weitere Menschen bei radikal-islamisch orientierten Attentaten.
So nachvollziehbar die Anti-Terror-Massnahmen, welche unter der Autorität des zuvor in Tibet tätigen Hardliners und Partei-Chef Chen Quanguo, durchgeführt worden sind, so wenig nachvollziehbar ist die „Chinaisierungs-Politik“ des Landes, welche mit nicht minder harter Hand durchgesetzt wird: einerseits durch die Ansiedlung Abertausender von Han Chinesen in den entsprechenden Gebieten, andererseits durch die Implementierung der „modernen Chinesischen Kultur“. Diese verbietet den Uiguren die Ausübung ihrer Religion, das Tragen eines Schleiers, der Verzicht auf Schweinefleisch und bestimmt die Namensgebung der uigurischen Kinder, indem typisch muslimische Namen wie Ali und Fatima verboten sind. Überschreitungen dieser Regeln werden hart bestraft; gemäss Daten aus China entfallen auf die Provinz Xinjiang 21% aller Festnahmen, während deren Bevölkerung gerade mal 1,5% ausmacht.

Versteckt und verschämt finden sich nach wie vor zahlreiche Moscheen in Kashgar, die wenigsten scheinen aber noch in Betrieb. Die grosse, zentrale Id-Kah-Moschee hingegen zieht hunderte von Touristen an. Eintritt 45 Yuan, was happigen 7 Euro entspricht, Ganzkörperscan und Gepäckröntgen inklusive. Metalldetektor-Fiepen statt Muezzin-Ruf.
Bejiing hat in Xinjiang einen beispiellosen Überwachungsstaat etabliert, es ist jederzeit nachvollziehbar, wo, wie lange und mit wem sich jemand aufhält. Jede noch so kleine Tankstelle lässt Fort Knox lachhaft ungesichert aussehen, kein Schritt in der Stadt ohne in diverse Überwachungskameras zu blicken. Polizeiwachen an beinahe jeder Strassenkreuzung, unzählige Polizisten mit Ausrüstung wie für einen unmittelbar bevorstehenden Strassenkampf, dazwischen immer wieder Quartiersperren mit zu passierenden Kontrollposten.
Bei Eintritt der Dämmerung beginnt der Nachtmarkt zu erwachen. Die erleuchteten Essensstände laden zum Probieren ein, überall dampft und brutzelt es. Interessanteste Gerichte gehen über den Ladentisch; nach dem inzwischen recht langweilig gewordenen zentralasiatischen Essen, ist es ein Fest der Sinne. Selbst die Kinder probieren sich durch all die verschiedenen Spiesschen, die entweder im Öl oder in einer Art Bouillon gekocht werden. Das kalte und schwache Lokalbier mildert die Schärfe. Durch das Eintreten der Nacht wird auch die Künstlichkeit der Altstadt Kashgars in das sanfte Licht der Dunkelheit getaucht, die Kameras sind nicht mehr ganz so augenscheinlich, auch wenn die stets patrouillierenden Polizeistreifen präsenter denn je sind. Wüssten wir es nicht besser, könnten wir uns richtig wohl fühlen.
Skorpione, Maden, Heuschrecken – was das Herz begehrt! Kuhschnauzen und andere Leckereien Keine Glückskekse, sondern Reis
Julian und Tabea drehen vor dem Zubettgehen immer wieder ihren Ein-Yuan-Schein in ihren Händen. Sie haben diesen von einem alten Uiguren geschenkt bekommen. Mit Zeichensprache hat er uns zu verstehen gegeben, dass dieser Schein ihnen Glück bringen soll .

Nochmals Vielen Dank, dass ihr uns mit Euch „mitnehmen“ in diesem wunderschönen Abendteuer. So viele Farben, so viele Gesichte. Ich bin jedesmal erstaunt und fasziniert. Insbesondere mit den 2 Kleinen, ich kann es noch mehr nachvollziehen (die Kleine hier ist ein bisschen jünger). Danke ebenfalls für die „10 häufigsten Fragen“ – ich habe es in einem Zug gelesen und – obwohl ich es für uns aktuell nicht vorstellen könnte, es ist echt zum träumen ! 🙂
Liebe Grüsse an allen,
Line
Liebe Line, oh, es freut mich, von dir zu hören! Und dass es ein Mädchen wurde, wusste ich noch gar nicht – herzliche Gratulation!!! Musst mir mal schreiben, wie’s euch so geht!
Ja, die „Kleinen“ sind so gar nicht mehr klein…sie werden wahnsinnig schnell gross und gerade beim Reisen merken wir das so gut. Als wir losgezogen sind, haben sie begonnen zu sprechen – nun argumentieren sie schon tüchtig. Bei der Abfahrt sind sie knapp die Leiter hochgekommen, nun rennen sie so schnell hoch, dass einem fast übel wird! Aber manchmal wünschen wir uns auch die Zeit der ersten Reise zurück, wo sie 3-6Monate alt waren – da war vieles noch einfacher…ganz liebe Grüsse,
Karin & Family
Respected Karin
right onward I will Follow Your Journey. and Believe me i am enjoying it very Much and i will stay stick with this. how is Tabea and Julian. Give them a big Salute.
Dear Junaid, glad to hear that! The kids are fine, always full of power and ready to harvest green tomatoes and flowers 😉 It was so nice to meet you and to chat with you and your collegue. We really enjoyed Gilgit! Regards from Chilas (where even less women are seen on the road)
hopefully you have enjoyed the absolute Different Environment at Chilas. over here our Tomatoes are ripe of the Innocent touch of Tabia and Julian.
Load of love for the Family.
Dear Junaid, recently the kids were speaking about your garden – and your tomatoes…hopefully you’ve got some more! Chilas itself we did not like very much but the way to the babusar pass up and down was just great. On top of the pass there was even heavy snowfall! Best regards – now from India (we miss Pakistan)
Leibe Familie,
Unfassbar wie weit Ihr schon gereist seid! Aus der Sicht einer eher stationär lebenden Schweizerin übersteigt die Strecke fast schon das Vorstellungsvermögen… Aus der Schweiz haben Emails die Reise zu Euch angetreten. Die Frage ist allerdings: Haben sie die ungeheure Strecke von 7000 Kilometern auch überwunden?
Ich wünsche Euch allen viel Freude an der Weiterreise
Lotti
Liebe Gottilottideddy, auch wir machen immer wieder die – doch verwunderliche – Erfahrung, dass E-mails einfach so im Datenäther verschwinden. Sofern wir denn wieder mal Internet haben, was hier häufig sehr mühsam ist. Aber ja, die heutige ist angekommen. Und schon beantwortet!
Herzliche Grüsse, deine KTTJ